Sperisen, Vera; Affolter, Simon (2022). Differenzierung zur Teilhabe: Ein handlungsorientiertes Konzept für die historisch-politische Bildung. In: Sievers, Wiebke; Bauböck, Rainer; Josipovic, Ivan; Karabegović, Dženeta; Shinozaki, Kyoko (eds.) Jenseits der Migrantologie: Aktuelle Herausforderungen und neue Perspektiven der Migrationsforschung. Jahrbuch Migrationsforschung (pp. 355-371). Wien: Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften 10.1553/978OEAW90493
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Der Nexus Migration – Integration – Flucht ist ein beliebtes Unterrichtsthema, wenn es darum geht, Schüler*innen im Sinne einer grundrechtsbasierten und antirassistischen Bildung für Werte wie Toleranz und Offenheit zu sensibilisieren. Zum einen greifen damit die Lehrpersonen im Sinne Wolfgang Klafkis (1996) ein epochaltypisches Schlüsselproblem auf. Der Unterricht soll dazu beitragen, rassistische Strukturen, Diskriminierungsformen und damit die „Spaltung der Gesellschaft“ (Achour 2018, 40) kritisch zu beleuchten, Vorurteile abzubauen und den Gemeinsinn zu stärken. Zum anderen wird in der Umsetzung der didaktische Anspruch sichtbar, die Lebensrealitäten der Schüler*innen im Sinne einer Subjektorientierung in der Unterrichtsgestaltung zu berücksichtigen. Im Forschungsprojekt Doing/Undoing Difference in der Politischen Bildung wird dabei deutlich, dass dieser Unterricht entgegen den Zielen der Lehrpersonen mehrheitlich in ein Doing Difference mündet – sprich, dass die anwesenden Schüler*innen auf ihren sogenannten Migrationshintergrund zurückgeworfen werden, ohne dass Zugehörigkeitsordnungen einer kritischen Reflexion unterzogen werden (Sperisen/Affolter 2020a). Die Analyse des Datenmaterials hat gezeigt, dass die Unterrichtspraxis und die dahinter liegenden fachlichen und pädagogischen Ziele der Lehrpersonen weit auseinanderdriften. Diese Diskrepanz soll hier als didaktisches Dilemma kritisch diskutiert werden. Schließlich soll mit „Differenzierung zur Teilhabe“ ein handlungsorientiertes Konzept für die pädagogische Praxis vorgestellt werden.
Das didaktische Dilemma besteht darin, dass die Lehrpersonen angesichts ihres didaktischen Anspruchs der Subjektorientierung einen bedeutenden Aspekt aufgreifen: Die Schüler*innen sind in unterschiedlicher Weise von den eingangs erwähnten gesellschaftlichen Verhältnissen betroffen. Dabei werden ihre (familiären) Migrationsbiografien in vielerlei Hinsicht relevant, sei es hinsichtlich gesellschaftlicher Zugehörigkeitserfahrungen oder gesetzlicher Rechte und Pflichten. Doch wie lässt sich dies in der pädagogischen Praxis berücksichtigen, ohne dabei natio-ethno-kulturelle Zugehörigkeitsordnungen zu reproduzieren?
Mit dem Ansatz der Differenzierung zur Teilhabe wird in diesem Beitrag eine Orientierungshilfe für unterschiedliche schulische Alltagssituationen etabliert. Es geht um eine pädagogisch-didaktische Entscheidungshilfe, die sich an der Teilhabe aller Lernenden orientiert und natio-ethno-kulturelle Fremdzuschreibungen möglichst vermeidet. Ziel dieses Ansatzes ist es, die Lernsettings so auszurichten, dass dem Spannungsfeld zwischen der Gleichbehandlung aller Schüler*innen (Gleichheit) und der gerechten Berücksichtigung von Unterschieden zwischen den Schüler*innen (Gerechtigkeit) aufmerksam und reflexiv begegnet werden kann.
Die Differenzierung zur Teilhabe bezieht sich einerseits auf Interaktionen mit den anwesenden Schüler*innen im Unterricht. Für die historisch-politische Bildung stellen sich folgende Fragen: Wie bringe ich die Schüler*innen mit den Unterrichtsinhalten in Verbindung? Wie unterscheide ich dabei die Schüler*innen im Sinne einer Subjektorientierung? Welche Rolle spielt für mich die (zugeschriebene) Herkunft der Schüler*innen für ihren Einbezug in den Unterricht und deren Beurteilung? Andererseits bezieht sich der Ansatz auch auf die Unterrichtsinhalte: Welche (oder wessen) Geschichte erzähle ich? Welche Subjekte kommen dabei vor? Welche Kollektivkategorien werden herangezogen? Und: Zu welchem Wir der Gegenwart wird diese Geschichte in Bezug gesetzt?
Im Folgenden wird, ausgehend von den Ergebnissen des Projekts Doing/Undoing Difference in der Politischen Bildung, das Spannungsfeld von Lebensweltbezug und Differenzmarkierung in der pädagogischen Praxis untersucht. Als handlungsorientierendes Konzept schlagen wir anschließend „Differenzierung zur Teilhabe“ vor. Nach einer theoretischen Herleitung und Differenzierung des Konzepts werden schließlich Schlussfolgerungen für die historisch-politische Bildung gezogen.
Item Type: |
Book Section (Book Chapter) |
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PHBern Contributor: |
Affolter, Simon |
ISBN: |
978-3-7001-9049-3 |
Series: |
Jahrbuch Migrationsforschung |
Publisher: |
Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften |
Language: |
German |
Submitter: |
Simon Affolter |
Date Deposited: |
16 Sep 2025 09:39 |
Last Modified: |
17 Sep 2025 09:31 |
Publisher DOI: |
10.1553/978OEAW90493 |
PHBern DOI: |
10.57694/7623 |
URI: |
https://phrepo.phbern.ch/id/eprint/7623 |
